Lotti Blumenfelds (Über)Lebensgeschichte

Teil 1

1919

Am 5. Februar 1919 wird Lotti Levi in Höchst am Main geboren.

Die Familie wohnt seit 1909 in der Leverkuser Straße 9.

Hier leben Lottis Eltern, Kallmann Levi und Rosa Levi, geb. Friesem, die beiden älteren Töchter Betty (13) und Else (11) sowie der Großvater Moses Friesem. Lottis Vater ist Kantor der jüdischen Gemeinde Höchst.

1988 hat Lotti Blumenfeld der USC Shoah Foundation ein Audio-Interview über ihr Leben gegeben. Daraus hörst du im Laufe der Geschichte einige kurze Ausschnitte. Im ersten Ausschnitt erzählt Lotti über ihre Kindheit.

 

1925

Lotti wird eingeschult. Sie besucht die Hostatoschule.

Eine Mitschülerin von Lotti berichtet über religiösen Antisemitismus an der Hostatoschule in den 20er Jahren.

Während der Pause, da kommen zwei Mädels auf mich zu, und da sagt die eine […] Weißt du aber auch, die Juden haben den Jesus gekreuzigt. Ich war sechs oder sieben. Ich habe angefangen zu weinen und gesagt: Mein Vater macht sowas nicht. Und was hat die Lehrerin gesagt? […] Sie hat nicht aufgeklärt, dass das die Römer waren. Sie hat gesagt: Na, das ist doch schon so lange her.
Audio-Interview jüdischer Höchsterinnen und Höchster von Waltraut Beck, 1991

1929

Lottis Vater ist seit 1904 Kantor und Schächter der jüdischen Gemeinde. Er hält die Gottesdienste in der Synagoge ab. Er arbeitet seit 25 Jahren als Religionslehrer am Lyzeum und am Gymnasium.

Ihre Mutter leitet die israelitische Frauenvereinigung.

25-jähriges Dienstjubiläum von Kallmann Levi 1929 (Bildmitte mit Ehefrau Rosa)

25-jähriges Dienstjubiläum von Kallmann Levi 1929 (Bildmitte mit Ehefrau Rosa)

Zum 25-jährigen Dienstjubiläum erhält Kallmann Levi Zuspruch und Lob von allen Seiten.

Hunderte von Telegrammen und Glückwunschschreiben zeugten von der hohen Achtung und Liebe, deren sich Herr Levi in weitesten Kreisen auch außerhalb seiner Gemeinde und seines Wohnortes erfreuen darf. 
Jüdische Wochenzeitung für Wiesbaden und Umgebung vom 5. April 1929

Das Höchster Kreisblatt berichtet am 22. April 1929 ebenfalls über Kallmann Levis Dienstjubiläum und notiert, dass er „bei Juden und Nichtjuden besondere Wertschätzung und vollkommene Hochachtung“ besitze.

1929 bis 1935

Lotti besucht gemeinsam mit ihrer Freundin Ilse Gerson das Städtische Lyzeum, wo ihr Vater schon seit 25 Jahren jüdische Religion unterrichtet.

Lotti und Ilse sind Mitglieder im Jüdischen Jugendverein. Sie unternehmen gemeinsam Wanderungen und gehen auf Campingausflüge. Später leiten beide auch eine Jugendgruppe innerhalb der Organisation. 

Wanderung des Jüdischen Jugendvereins im Taunus 1931, auf dem Baumstamm sitzend: Lotti fünfte von vorn, Ilse dritte von hinten.

Wanderung des Jüdischen Jugendvereins im Taunus 1931, auf dem Baumstamm sitzend: Lotti fünfte von vorn, Ilse dritte von hinten.

Im folgenden Abschnitt erzählt Lotti, wie es sich anfühlte, dass der eigene Vater sie unterrichtete.

1933

1933 ist das Jahr, in dem Hitler zum Reichskanzler ernannt wird, weil ein großer Teil der Deutschen seine Partei, die NSDAP, gewählt hat.

Die Nationalsozialisten erlassen viele antijüdische Gesetze.

Hier kannst du einige Gesetze nachlesen:

  • ab 1933 durfte nur noch 5% der Schülerschaft jüdisch sein
  • Jüdinnen und Juden wurden aus Sportvereinen ausgeschlossen
  • Jüdinnen und Juden durften nicht mehr als Lehrer, Arzt oder Rechtsanwalt arbeiten
  • Rassenkunde wurde ein Unterrichtsfach
  • ab 1934 musste man sich in der Klasse mit „Heil Hitler“ begrüßen
  • 1935 wurden die „Nürnberger Rassengesetze“ erlassen. Juden durften z.B. keine Nicht-Juden mehr heiraten und sie verloren ihre Reichsbürgerschaft
  • ab 1935 durften jüdische Kinder nicht mehr mit auf Klassenfahrten
  • Juden und Jüdinnen durften nicht mehr in Jugendherbergen übernachten, nicht mehr ins Kino oder Schwimmbad gehen
  • 1936 wurde jüdischer Religionsunterricht verboten
  • ab 1941 wurden Juden gezwungen, einen gelben Stern auf der Kleidung zu tragen
  • ab 1942 durften Juden nicht mehr in die Schule gehen, keine Haustiere mehr halten und bekamen weniger Lebensmittel als andere

Lottis Vater wird 1933 aus dem Schuldienst entlassen, auch der Direktor des Lyzeums Dr. Ernst wird entlassen. Die Nazis setzen einen neuen Schulleiter ein, der Mitglied der NSDAP ist: Dr. Wachter.

Lotti berichtet später, dass sie sich nicht an Antisemitismus im Schulalltag erinnern kann. Die zwei Jahre jüngere Mitschülerin Claire Morgenstern erinnert sich jedoch, dass Wachter sich judenfeindlich äußerte und die jüdischen Schülerinnen zum Verlassen der Schule drängte.

Herr Rektor Wachter kam mit großem Vergnügen in die Klasse und hat sich hinpostiert, nicht einmal, sondern x-mal, und hat gesagt: Ich muss feststellen, wer hier nicht rein arisch ist.[…]. Ich will eine rein arische Schule.
Audio-Interview jüdischer Höchsterinnen und Höchster von Waltraut Beck, 1991
Schulausflug des Lyzeums 1933: Ilse mittig sitzend mit Halstuch, Lotti rechts hinter der Lehrerin im weißen Kleid

Schulausflug des Lyzeums 1933: Ilse mittig sitzend mit Halstuch, Lotti rechts hinter der Lehrerin im weißen Kleid

Schulausflug des Lyzeums 1933: Ilse mittig sitzend mit Halstuch, Lotti rechts hinter der Lehrerin im weißen Kleid

Die Nazis rufen dazu auf, jüdische Geschäfte zu boykottieren. Die Familie ihrer Freundin Ilse, die ein Bekleidungsgeschäft in der Bolongarostraße hat, ist davon betroffen.

1934

In der Schule wird das Fach „Rassenkunde“ eingeführt. Hier wird die vermeintliche Überlegenheit der „arischen Rasse“ propagiert, das ist ein Teil der Nazi-Ideologie. 

Lotti erinnert sich 1991, als sie Höchst besucht, an eine denkwürdige Unterrichtsstunde am Lyzeum. 

1935

Lotti macht ihren mittleren Abschluss am Städtischen Lyzeum. 

Lotti vierte von rechts, Ilse sechste von rechts

Ilse vorn stehend zweite von rechts, Lotti oben mittig (Strickjacke mit weißer Knopfleiste)

1936

1936 emigriert Lottis älteste Schwester Betty nach Palästina. Dies ist das Abschiedbild. Von links nach rechst: Betty, Mutter Rosa, Else, Lotti, Vater Kallmann, sitzend Moses Friesem mit Urenkelin Ruth.

1937

Lotti beginnt ihre Ausbildung am Jüdischen Krankenhaus in der Gagernstraße in Frankfurt. Sie wohnt im Schwesternheim. Hier erzählt sie von ihren Beweggründen.

Am 9. November 1938 bricht in Höchst und in ganz Deutschland offene Gewalt gegen Jüdinnen und Juden aus.

In Deutschland werden tausende Juden verschleppt, misshandelt, ermordet. Synagogen und jüdische Geschäfte werden geplündert und zerstört.

Die Höchster Synagoge wird am 10. November in Brand gesetzt und geplündert. Die Feuerwehr hilft nicht. Sie ist nur gekommen, um die angrenzenden Häuser vor den Flammen zu schützen.

Kallmann Levi wird beim Versuch, den Heiligen Schrein aus der brennenden Synagoge zu retten, von Hitlerjungen zusammengeschlagen.

Jüdinnen und Juden werden auf offener Straße angegriffen. Viele Männer werden in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt und dort grundlos unter schrecklichen Bedingungen festgehalten. 

Moses Friesem wird von Jungen des Gymnasiums bespuckt und mit Steinen beworfen. Am Kopf blutend kommt er zuhause an, wo ihm die christliche Hausbesitzern Änne Safran hilft. Sie muss die Rollläden schließen und die Tür verbarrikadieren, um Friesem vor dem Mob zu schützen.

Alle jüdischen Geschäfte werden geplündert und zerstört. Die Ladenbesitzer müssen selbst für den Schaden aufkommen.

10 Tage nach den Novemberpogromen verlässt die Familie das Zuhause, in dem sie 30 Jahre lang gelebt hat und zieht in das Frankfurter Ostend. Lottis Schwester Else flieht mit ihrem Mann und den zwei kleinen Kindern nach den Novemberpogromen aus Treuchtlingen, wo ihre Wohnung demoliert und geplündert wurde. Sie ziehen wieder bei den Eltern ein.

Lotti versorgt im Krankenhaus viele Opfer der Novemberpogrome. Kurz nach dem Umzug stirbt der Großvater Moses im Alter von 84 Jahren.

1939

Im Oktober 1939 beendet Lotti ihre Ausbildung mit dem Staatsexamen. Sie arbeitet weiter im Jüdischen Krankenhaus. An den Wochenenden besucht sie oft ihre Familie.

1941 beginnen die Massendeportationen aus Frankfurt.

Von 1941 bis 1945 benutzte die Geheime Staatspolizei den Keller der Großmarkthalle als Sammelplatz für die Deportation von Juden aus der Stadt und dem Umland. Etwa 10.050 Menschen wurden allein bei 10 Massendeportationen von Oktober 1941 bis September 1942 zusammengetrieben, beraubt, in Güterzüge gezwängt und vom Bahnhof Großmarkthalle in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppt und in der Folge ermordet. Nach heutigem Wissen überlebten von diesen Menschen nur 179 Deportierte bis zur Befreiung vom Nationalsozialismus.
https://de.wikipedia.org/wiki/Erinnerungsstätte_an_der_Frankfurter_Großmarkthalle

1933 leben 500.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland. Die jüdische Gemeinde Frankfurt umfasst 28.000 Menschen. Im Mai 1945 sind noch 15.000 jüdische Menschen in Deutschland. Sie konnten offen oder im Untergrund den Deportationen entgehen. In Frankfurt können die Alliierten nur 200 jüdische Menschen befreien. 

Die Deportationen geschahen in aller Öffentlichkeit.

Als ich morgens ins Büro kam, standen auf den Gleisen weiter draußen geschlossene
Waggons, die von der Gestapo bewacht wurden. Das alles hat sich mehrmals wiederholt.
Und nicht nur ich wusste, was da geschah, viele wussten es.
Sekretärin an der Großmarkthalle. Zitiert nach Heike Drummer, Jutta Zwilling: „Und keiner hat für uns Kaddisch gesagt…“. Deportationen aus Frankfurt am Main 1941-1945, Frankfurt 2004, S. 122.

Lotti und ihre Eltern bekommen im Frühling 42 ihren Deportationsbescheid. Sie sollen sich am 7.5.1942 in der Großmarkthalle einfinden. Sie sitzen schon im Keller der Halle, als doch alles anders kommt.

Lottis Vater wird in das Vernichtungslager Majdanek verschleppt. Lottis Mutter wird nach Theresienstadt deportiert.

Am 18. August 1942 werden Lottis Schwester Else und ihr Mann Salomon Frank mit ihren Kindern nach Theresienstadt deportiert. Ruth und Paul sind 8 und 5 Jahre alt, Mosche ist vier Monate alt.

Lotti arbeitet im Jüdischen Krankenhaus bis zu dessen Zwangsschließung im September 1942.

Wenn du Lottis Geschichte weiterverfolgen möchtest, dann lies jetzt den zweiten Teil.